Kein gewöhnlicher Schulweg

MobileKids widmet sich der „Inklusion im Straßenverkehr“ und zeigt, wie Verkehrserziehung für Kinder mit Sehbehinderung aussehen kann.

An Selis Arm ist die Welt in Ordnung. Fröhlich plaudernd läuft Luciana zügig den Gehweg entlang und lässt dabei ihren Langstock vor sich von einer Seite zur anderen pendeln. „Mit ihm kann ich Hindernisse ertasten und weiß, wo der Gehweg rechts und links endet“, erklärt die 15 Jahre alte Schülerin, die von Geburt an blind ist. Ihre Begleitung Seli ist Selina Wiedermann, Lucianas Orientierungs- und Mobilitätslehrerin (s. Interview). An diesem Tag üben die beiden gemeinsam Lucianas Schulweg.

Und dieser hat es in sich: Rund 15 Kilometer trennen die Schule und das Internat, in dem Luciana unter der Woche wohnt. Das bedeutet für sie: 45 Minuten mit der Stadtbahn durch Stuttgart, inklusive Umsteigen. Die 200 Meter von der Schule bis zum Bahnsteig führt Selina Wiedermann ihren Schützling noch am Arm, in der sogenannten sehenden Begleitung. Dann zieht sie sich zurück und beobachtet, wie Luciana das Gelernte allein umsetzt. Rund drei Monate feilen die beiden bereits an dem Schulweg. Ohne Selis sicheren Arm wird Luciana langsamer und auch stiller. „Ich kann nicht sprechen und hören gleichzeitig“, erklärt sie. Denn neben dem Langstock als ihrem verlängerten Zeigefinger ist das Gehör ihr wichtigster Sinn. „Die Kinder lernen den Verkehr mit den Ohren einzuschätzen und wissen auch irgendwann, dass ein Mensch neben ihnen anders klingt als eine Hauswand“, gibt Lehrerin Wiedermann Beispiele.

Stock, Binde, Hund – gibt es eine Kennzeichnungspflicht?

In Deutschland gibt es keine Kennzeichnungspflicht für sehbehinderte oder blinde Menschen im Straßenverkehr. Dennoch hilft es anderen Verkehrsteilnehmern und -teilnehmerinnen, wenn sie nicht automatisch davon ausgehen, dass eine Person uneingeschränkt sehen kann – das fördert die Rücksichtnahme. Zur Kennzeichnung stehen folgende Hilfsmittel zur Verfügung:

  • Blindenlangstock
  • Gelbe Armbinde mit drei schwarzen Punkten
  • Blindenführhunde mit weißem Führgeschirr

Um Hilfe fragen nervt manchmal

Luciana steht fast regungslos am sogenannten Einstiegsfeld am Bahnsteig – einem Noppenquadrat am Boden, das zeigt, wo die Tür sein wird. Die Stadtbahn fährt ein. Welche Linie es ist, muss Luciana täglich aufs Neue erfragen, denn an den oberirdischen Haltestellen gibt es zum Teil wegen des Lärmschutzes der Anwohner in der Stadt keine Ansagen. „Das nervt schon manchmal. Manche Leute sprechen kein Deutsch oder sie ignorieren mich“, erzählt die 15-Jährige. In der Bahn angekommen, kann sie sich nur kurz entspannen. Denn schon nach einer Haltestelle heißt es umsteigen. Mit dem pendelnden Langstock bahnt sich Luciana den Weg aus dem Waggon. Dabei trifft sie auch zahlreiche Füße. Das ist eben so, die wenigsten Passanten beschweren sich darüber. Das Umsteigen klappt reibungslos, die wochenlange Arbeit mit ihrer Lehrerin hat sich gelohnt. Diese begleitet ihren Schützling sichtlich zufrieden in ein paar Metern Abstand. „Ich bin trotzdem immer sehr aufgeregt“, gesteht Luciana. „Aber gleichzeitig auch stolz, dass ich das allein kann. Ich bin die Einzige in meiner Klasse. Das ist ein schönes Gefühl.“

Eindrücke vom Schulweg-Training

Ab der Endhaltestelle wird es nochmal knifflig. Am Bahnsteig bahnt sich die 15-Jährige pendelnd und mit Hilfe des Leitsystems am Boden ihren Weg durch die vielen Menschen bis zur Treppe. „Wenn ich weiß, dass eine Treppe kommt und nach oben geht, macht es mir nichts aus“, erzählt Luciana. „Runter gehe ich nicht so gerne alleine, ich bin schon mal gestürzt.“ Oben angekommen muss sie einige hundert Meter einen Fußweg entlang. Auch hier werden die Herausforderungen schnell deutlich: Fahrradfahrer sehen von hinten den Langstock nicht und „heizen viel zu schnell an mir vorbei“, wie Luciana es verärgert nennt. Immer wieder parken mitten auf dem Gehweg Elektroroller, von denen es zunehmend mehr im Stadtgebiet gibt. „Sie haben eine unglückliche Form und Höhe. Bis man sie mit dem Stock ertastet, stößt man manchmal mit dem Bauch schon gegen den Lenker“, erklärt Lehrerin Wiedermann.

Digitale Hilfsmittel machen nicht immer Sinn

Mittlerweile gebe es eine App, die die Scooter erkennt und zum Piepsen bringt, wenn sich jemand mit dem Smartphone in der Tasche nähert. „Aber noch nicht alle Anbieter machen mit“, erklärt Wiedermann. Gibt es denn in der fortschreitend digitalen Welt nicht ohnehin viele Hilfsmittel, die blinden Menschen das Leben leichter machen können? „Es gibt wenige, die sich bewähren, weil die Zielgruppe einfach zu klein ist“, berichtet die Lehrerin. Natürlich seien Navigationsapps eine gute Unterstützung. Darüber hinaus gebe es beispielsweise auch Apps, die die Farbe der Ampel erkennen können. „Das ist aber immer mit einem Risiko verbunden. Man muss genau wissen, wie man das Handy halten muss, um die Ampel auch zu finden.“ Die Schulung hat deshalb hauptsächlich das Ziel, zu lernen, wie man mit dem Langstock geht. Zusätzliche Hilfsmittel werden individuell erprobt und angewandt. Der Langstock reicht Luciana, wenn sie ihn neben sich senkrecht aufstellt, in etwa bis zur Nase – so hat sie genug Vorlauf, um ein Hindernis zu erkennen und zu reagieren. „Bei geübteren Erwachsenen kann er auch etwas kürzer sein“, sagt Wiedermann.

5 Tipps für den Umgang mit Blinden und Sehbehinderten im Straßenverkehr

1. Ausweichen: Kommt euch eine offensichtlich blinde oder sehbehinderte Person entgegen, bleibt entspannt und weicht gegebenenfalls aus.

2. Verständnis zeigen: Die blinden oder sehbehinderten Menschen können euch nicht sehen – da kann es schon mal vorkommen, dass sie euch anrempeln oder mit dem Langstock am Bein berühren. Darüber muss man sich nicht aufregen – bleibt cool!

3. Nicht anfassen: Am Bahnsteig unvermittelt zurückziehen, in den Bus oder die Bahn schieben oder einfach über die Straße führen – niemals solltet ihr eine blinde oder sehbehinderte Person einfach anfassen und bevormunden. Stellt euch vor, wie sehr sie erschrecken. Vergesst nicht: Die Menschen können hören. 

4. Zuhören: Und sie können auch sprechen. Darum solltet ihr ihnen zuhören und erstmal herausfinden, ob sie überhaupt Hilfe brauchen oder wollen.

5. Verständlich ansprechen: Mit einem „Hey, du da“ werdet ihr keinen Erfolg haben, wenn ihr eine blinde oder sehbehinderte Person ansprechen wollt. Woher soll sie wissen, dass sie gemeint ist?! Mit „Hallo, Sie mit dem Langstock“ oder einer ähnlich konkreten Anrede habt ihr mehr Erfolg.

Endspurt auf dem langen Schulweg. Luciana pendelt mit ihrem Langstock, bis sie den Absatz eines beginnenden Brückengeländers spürt. Das ist ihr Hinweis, dass sie nun rechts abbiegen und nochmal eine kleine Treppe meistern muss. „Der Weg sitzt fest in meinem Kopf“, sagt sie sichtlich stolz. Auf die Frage, wie sie die Schulungen mit Selina Wiedermann findet, hat sie eine klare Antwort: „Toll. Besser als jedes Schulfach. Seli ist total nett und bringt mir alles gut bei.“ Wiedermann lächelt – eine Rückmeldung, die ihr zeigt, wie wertvoll ihre Arbeit ist. Luciana ist auf den letzten Metern. Als sie merkt, dass es etwas bergab zu gehen beginnt, weiß sie, dass sie wieder abbiegen muss. Noch 20 Schritte und sie erreicht das Tor zum Internat. Fröhlich, aber auch sichtlich erschöpft. Jetzt kann sie sich ausruhen, bevor sie am nächsten Tag wieder den Schulweg antritt – dann sogar ganz allein.

„Passanten meinen es oft zu gut“

Selina Wiedermann ist Jugend- und Heimerzieherin und arbeitet bei der Nikolauspflege Stuttgart, einer Stiftung für blinde und sehbehinderte Menschen, mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Blindheit oder Sehbehinderung sowie Mehrfachbehinderung. Darüber hinaus hat sie sich zur Rehabilitationsfachkraft für Orientierung & Mobilität ausbilden lassen und hilft ihren Klienten dabei, sich unter anderem im Straßenverkehr zurechtzufinden. In der Ausbildung musste sie dafür auch an ihre eigenen Grenzen gehen. 

Frau Wiedermann, Sie geben Orientierungs- und Mobilitätsschulungen – was genau ist das?

Wiedermann: O&M ist ein Schulungsprogramm, das Klienten hilft, sicher und selbständig mobil und orientiert zu sein. Es findet sowohl in Gebäuden statt als auch draußen als Verkehrserziehung. Die Lerninhalte sind sehr individuell: Ein Kind mit kognitiver Beeinträchtigung lernt vielleicht nur den Weg vom Klassenzimmer zur Toilette und zurück. Andere können ihren Schulweg allein bestreiten. Das Motto ist: so viel Selbstständigkeit und so wenig Abhängigkeit wie möglich.

Wie können Sie als Sehende blinden und sehbehinderten Menschen eine solche Schulung geben? Fehlt Ihnen nicht die Perspektive?

Wiedermann: Ein großer Teil der Ausbildung ist die Selbsterfahrung. Ich war viele Stunden mit Augenbinde im Straßenverkehr unterwegs. Dabei musste ich wirklich an meine Grenzen gehen. Gerade auf Bahnsteigen hatte ich große Angst, ins Gleisbett zu stürzen – dabei habe ich im Nachhinein auf Videos gesehen, wie weit ich von der Kante entfernt war. Das hilft sehr, um sich in die Klienten hineinversetzen zu können.

Wann sollte man am besten mit Schulungen anfangen?

Wiedermann: So früh wie möglich. Kinder starten spielerisch, sobald sie laufen können – etwa mit einem Puppenwagen, um Hindernisse zu erkennen. Die „klassische“ Schulung kommt dann nach und nach. Auch theoretische Wissensvermittlung gehört dazu: Wer noch nie gesehen hat, hat keine Vorstellung von Verkehrsabläufen. Ich arbeite dann zum Teil mit Modellen von Straßen oder Kreuzungen, die die Kinder ertasten, und wir fahren mit Spielzeugautos. Begriffsbildung ist dabei ganz wichtig: Was ist ein Bordstein, was ein Gullideckel und so weiter. Kinder müssen Begriffe auch begreifen lernen.

Tun Kinder sich leichter als Erwachsene?

Wiedermann: Sie gehen auf jeden Fall unvoreingenommener und angstfreier an die Sache heran.

Lernen Kinder in der Gruppe? Und wie viele Stunden O&M-Schulung braucht es?

Wiedermann: Nein, es sind immer Einzelstunden – weil die Voraussetzungen so unterschiedlich sind und die Ablenkung zu groß wäre. Ersteres ist auch der Grund, warum es keine feste Stundenzahl gibt, nach der man fertig ist. Gerade bei Kindern ist Verkehrserziehung ein laufender Prozess. Denn wie bei sehenden Kindern können manche Fertigkeiten erst mit fortschreitender Entwicklung vermittelt werden. Zum Beispiel die Fähigkeit, per Gehör einschätzen zu können, aus welcher Richtung ein Martinshorn kommt.

Welche typischen Situationen werden im Straßenverkehr geübt?

Wiedermann: Zum Beispiel das Überqueren verschiedener Straßen – mit oder ohne parkende Autos – oder das Bedienen von Ampelauslösern. An den klassischen gelben Auslösern kann unten per Knopfdruck eine Vibration angefordert werden. Der Metallknopf obendrauf vibriert nicht nur, sondern gibt weitere Hinweise: Die Pfeilspitze zeigt die Richtung an, eine Kerbe im Pfeil weist auf einen Bahnübergang hin, eine Wölbung auf eine Verkehrsinsel in der Straßenmitte. Diese eigene Verkehrssprache muss erlernt werden, ebenso wie das Ertasten von Leitlinien und Aufmerksamkeitsfeldern auf dem Boden mit dem Langstock. Generell ist nicht das Auswendiglernen eines Weges entscheidend, sondern das Entwickeln von Strategien und Techniken, die überall anwendbar sind – wer eine Ampel überqueren kann, schafft das auch an anderen Ampeln.

Was können denn Passanten tun, um zu helfen beziehungsweise wie verhalten sie sich richtig?

Wiedermann: Passanten meinen es oft zu gut. Sie schieben jemanden in eine U-Bahn, ziehen ihn am Bahnsteig zurück oder bringen ihn über die Straße, obwohl er gar nicht rüber möchte. Das geschieht nicht böswillig, aber wichtig wäre, erst zu fragen, ob überhaupt Hilfe gewünscht ist. Darum müssen die Kinder und Jugendlichen üben, deutlich zu sagen, was sie wollen und was nicht oder um Hilfe zu bitten. Das ist ihnen oft unangenehm und erfordert Selbstbewusstsein. Umso wichtiger ist es, das in den Schulungen zu üben und ihnen damit ein wichtiges Rüstzeug für ihr weiteres Leben mitzugeben.