Sich sicher im Verkehr zu bewegen und verantwortungsvoll zu verhalten, ist keine einfache Sache. Darum müssen Kinder dies kontinuierlich lernen und üben. Noch schwieriger ist es für Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen. Das weiß auch Jutta Kuhn. Die Geschäftsführende Vorsitzende der Kreisverkehrswacht Ludwigsburg in Baden-Württemberg begann 1990 ihre Arbeit mit Pkw-Fahrsicherheitstrainings für Erwachsene. Vor 15 Jahren hat sie nicht nur den Vorsitz des Vereins übernommen, sondern sich mit ihren Verkehrssicherheitstrainings auf die Ausbildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit geistiger Behinderung spezialisiert. Im Interview berichtet sie, warum das Thema zu ihrer Herzensangelegenheit geworden ist.
Frau Kuhn, wie muss man sich Verkehrserziehung für Menschen mit geistiger Behinderung vorstellen? Was machen sie da genau?
Kuhn: Zunächst mal muss man wissen, dass es nicht das eine Programm oder die eine Verkehrserziehung gibt, da die Bandbreite der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen riesig ist. Ich gehe zum Beispiel regelmäßig in eine Schule mit Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf im Schwerpunkt Lernen. Diese sind kognitiv oft genauso fit wie alle anderen Kinder, tun sich nur mit der Konzentration etwas schwerer. Da mache ich dann zum Beispiel kürzere Einheiten und noch mehr Bewegungsspiele. Oder nehmen wir ein Kind mit Autismus – dem sage ich einmal, dass es bei Rot stehenbleiben muss und es wird ziemlich sicher nie wieder bei Rot über die Ampel gehen. Bei Personen mit schwereren Behinderungen muss ich zum Beispiel daran denken, dass sie niemals rechts und links unterscheiden werden können – da kann man etwa mit Bändern an den Handgelenken arbeiten. Es könnte wirklich nicht individueller sein.
Verkehrserziehung ist in Deutschland fest in den Bildungsplänen verankert. Und das schon seit einem Beschluss der Kulturministerinnen und Kultusminister von 1972. Die „Empfehlungen zur Verkehrserziehung in der Schule“ beschränken sich seit einer Weiterentwicklung des Beschlusses im Jahr 1994 nicht mehr nur auf die reine Sicherheitserziehung, sondern beinhalten auch die kritische Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit dem Thema Verkehr allgemein. Verkehrserziehung schließt also auch Sozialerziehung, Umwelterziehung und Gesundheitserziehung mit ein – und zwar von Jahrgangsstufe 1 bis 13 und für Kinder und Jugendliche mit oder ohne besonderem Förderbedarf gleichermaßen.
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Punkte bei der Verkehrserziehung Ihrer Zielgruppe?
Kuhn: Zunächst mal muss man sich einfach Zeit nehmen, das ist schon die halbe Miete. Und natürlich muss man die Themen regelmäßig auffrischen, da sie einfach nicht so präsent bleiben. Ganz wichtig ist auch die spielerische Herangehensweise an die Inhalte. Ich arbeite zum Beispiel mit Wimmelbildern, lese Geschichten vor, wir basteln ein Verkehrsschild-Bingo oder ich habe Puppen dabei. Das Wichtigste ist aber, seinem Gegenüber etwas zuzutrauen. Die Kinder und Erwachsenen haben oft viel mehr drauf als wir vermuten.
Gibt es Schulungen, Leitfäden oder Materialien, die sie auf ihre Arbeit vorbereitet haben?
Kuhn: Ja, ich habe zum Beispiel, als ich begonnen habe, eine Schulung mit einer Psychologin besucht. Materialien und Unterlagen gibt es viele, zum Beispiel die aus dem Projekt „Mobil teilhaben“ der Deutschen Verkehrswacht. Die sind toll. Nichtsdestotrotz habe ich sie auch nach meinen persönlichen Erfahrungen weiterentwickelt und eigene Konzepte geschrieben.
Das Projekt „Mobil teilhaben – Kids lernen Verkehr!“ geht zurück auf eine Initiative des Lehrstuhls Pädagogik bei geistiger Behinderung an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der TÜV SÜD Stiftung. Die Unterlagen helfen dabei, Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung fit für die alltäglichen Herausforderungen im Straßenverkehr zu machen und ihnen damit eine selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen.
Was gefällt Ihnen persönlich an der Arbeit mit Menschen mit Behinderung?
Kuhn: Egal ob Kinder oder Erwachsene – sie sind immer mit großer Begeisterung bei der Sache. Das gibt mir viel zurück. Bei dieser Zielgruppe muss man auch mit sehr viel Ruhe an die Sache rangehen, da sie Aufregung teilweise nicht gut verkraften können. Diese Ruhe strahlt dann auch auf mich zurück – das tut sehr gut in meinem wirklich stressigen Arbeitsalltag. Ich kann es gar nicht anders beschreiben, als dass mein Engagement einfach von Herzen kommt.
Hat sich Ihre Arbeit herumgesprochen und steigt die Nachfrage?
Kuhn: Das tut sie generell in puncto Verkehrserziehung, aber natürlich auch in diesem Bereich. Es kommen zum Beispiel auch privat Eltern mit Kindern mit höherem Förderbedarf und fragen nach Unterstützung über das Engagement der Schule hinaus – etwa beim Fahrradtraining. Diesen Bedarfen versuchen wir immer nachzukommen.
Weltweit befassen sich Bildungseinrichtungen, Institutionen und Organisationen mit dem Thema Verkehrserziehung beziehungsweise -sicherheit für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Die britische gemeinnützige Organisation „Royal Society for the Prevention of Accidents“ – kurz RoSPA – hat zum Beispiel einen besonderen Leitfaden für Eltern und Betreuungspersonen herausgebracht. Dieser ist nach verschiedenen Förderbedarfen geclustert. Darin ist genau erklärt, welche spezifischen Probleme etwa Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung, ADHS oder einer Lese-Rechtschreib-Störung in Verkehrssituationen haben und welche Methoden ihnen speziell helfen, diese zu lösen und sich sicher im Verkehr zu bewegen.
Bildung, die nie aufhören darf
Bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung endet das Thema Verkehrserziehung nicht mit der Schulausbildung. „Auch Erwachsene brauchen hier immer wieder eine Auffrischung ihrer Kenntnisse und kontinuierliche Wiederholung“, sagt Magdalena Molnár vom Verein Arbeit und Berufliche Bildung für benachteiligte Menschen Ludwigsburg, der Träger von fünf Werkstätten mit Arbeits- und Betreuungsplätzen für Menschen mit Behinderung ist. „Darum bieten wir für unsere Beschäftigten der Theo-Lorch-Werkstätten regelmäßig Verkehrserziehungsschulungen in Kooperation mit der Kreisverkehrswacht an“, sagt die Leiterin der Fachabteilung Bildung. „Denn Bildung bedeutet Schritte in Richtung Selbstbestimmung. Durch unsere Schulungen ermöglichen wir den Beschäftigten, sich in ihrem individuellen Lerntempo und im Rahmen ihrer Möglichkeiten, weiterzuentwickeln.“
Die Trainerinnen und Trainer gehen dabei meist genauso spielerisch an das Thema heran, wie sie es mit Kindern tun würden. Dass sich geistig beeinträchtigte Menschen auch im Erwachsenenalter nie allein im Straßenverkehr bewegen würden, sei ein gängiges, aber falsches Vorurteil. „Wir haben sehr wohl Beschäftigte, die ihren Arbeitsweg selbst meistern können.“ Aber auch für jene, die sich nicht ohne Begleitung im Straßenverkehr bewegen können, seien die Kurse bereichernd, erklärt Molnár. „Unsere gesellschaftliche Aufgabe ist es, Inklusion und Teilhabe zu ermöglichen. Ich bin überzeugt davon, dass wir mit unseren Schulungen und zusammen mit unseren Kooperationspartnern einen wertvollen Beitrag für die uns anvertrauten Menschen leisten.“